Das Paradox der Ordnung Wenn die Fiktion beginnt, sich selbst zu bekämpfen
ExNatura beleuchtet das Paradox eines Systems, das sich auf den Menschen beruft – ihn aber bekämpft, sobald er in seine natürliche Ordnung zurückkehrt. Zwischen Böckenförde-Diktum und Luhmann entfaltet sich ein stiller, philosophischer Blick auf das, was bleibt, wenn Systeme verstummen.
4/16/20255 min read


Das Paradox der Ordnung
Wenn die Fiktion beginnt, sich selbst zu bekämpfen
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ — Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staatsrechtler und Verfassungsrichter (1930–2019)
Mit diesem Satz machte Böckenförde auf ein fundamentales Paradox aufmerksam: Ein System, das sich auf Freiheit beruft, kann diese nicht selbst hervorbringen – es muss sie stillschweigend voraussetzen. Doch was geschieht, wenn sich genau diese Voraussetzung wieder zeigt – in einem Menschen, der einfach ist? Der sich nicht beugt, nicht widerspricht, sondern wirkt? Dann beginnt der Staat, das zu bekämpfen, was ihn einst hervorgebracht hat.
In der Systemtheorie wird dies als Selbstreferenzialität bezeichnet: Ein System erzeugt und erhält sich durch eigene Operationen – es kann nur das anerkennen, was es selbst formt. Was außerhalb dieser Form wirkt, wird zur Irritation. Niklas Luhmann beschrieb diese Dynamik als notwendige Abgrenzung geschlossener Systeme. Doch wenn ein Mensch nicht reagiert, sondern lediglich existiert, steht er jenseits dieser Referenz – und genau das destabilisiert das System. Dann beginnt der Staat, das zu bekämpfen, was ihn einst hervorgebracht hat. Ein solcher Mensch ist für das System nicht nur unsichtbar – er ist unerreichbar.
Quelle:
– Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit (1976)
– Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997)
Philosophischer Hauptabsatz: Der Mensch ist. Er bedarf keiner Definition, keiner Rolle, keiner Erlaubnis. Er wirkt durch sein bloßes Sein – unmittelbar, grundlos, natürlich. Das System jedoch existiert nur vermittels Abstraktion. Es braucht Konstrukte, Zuordnungen, Funktionen. Und es braucht vor allem: Vergessen. Denn nur wenn der Mensch vergisst, dass er nicht gemacht wurde, sondern ist – kann er in die Form einer „Person“ gegossen werden. Doch in dem Moment, in dem der Mensch wieder in sich tritt, in dem er nicht antwortet, sondern wahrnimmt, beginnt das System zu wanken. Nicht weil es angegriffen wird – sondern weil es sich selbst nicht mehr erklären kann, wenn ihm sein Ursprung gegenübertritt.
Der Mensch ist. Nicht als Behauptung, nicht als Konzept – sondern als Wirklichkeit. Sein Dasein bedarf keiner Erklärung, keiner Bestätigung, keiner Form. Es ist Ursprung, nicht Ableitung. Jene Welt, die sich „Ordnung“ nennt, ist keine. Sie ist ein Gefüge aus Begriffen, die nicht dem Leben entspringen, sondern der Distanz zum Lebendigen. Sie baut auf dem, was nicht ist: der Fiktion. Sie spricht vom Menschen, doch sie kennt ihn nicht. Sie spricht von Recht, doch sie kennt kein Maß. Denn Fiktion kann nur existieren, wenn sie von etwas zehrt, das wirklich ist. Sie braucht ein Gegenüber – einen Träger, einen Namen, eine Rolle. Doch der Mensch gibt ihr nichts davon, wenn er bei sich bleibt. Er spielt nicht mit. Und gerade darin liegt die Kraft.
Sobald der Mensch sich nicht mehr beugt, nicht mehr antwortet, nicht mehr als Figur in Erscheinung tritt – sondern einfach nur steht, atmend, schauend, still – gerät das Gebilde ins Wanken. Nicht, weil es angegriffen wird. Sondern weil seine Voraussetzung nicht mehr erfüllt ist: die Verwechslung von Schein mit Sein.
So entsteht das Paradox: Eine Ordnung, die vorgibt auf dem Menschen zu beruhen, bekämpft ausgerechnet jenen Zustand, in dem der Mensch wieder Mensch ist. Die Ordnung, die sich auf den Menschen beruft, bekämpft ihn in dem Moment, in dem er sich wieder erinnert, wer er ist. Nicht weil er etwas tut – sondern weil er aufhört, etwas zu sein, was er nie war.
Der Mensch entzieht sich nicht. Er erscheint – und alles, was Fiktion ist, verliert an Kontur. Juristisch gesprochen wird der Mensch erst angreifbar, wenn er in ein Rechtsverhältnis tritt oder sich zur Identität innerhalb eines Systems bekennt. Doch wenn er einfach nur ist, bleibt er außerhalb jeder Grundlage, auf die das System sich berufen könnte.
Die Frage nach dem Entkommen ist Teil des Irrtums Sehr viele Menschen fragen, wie sie da herauskommen – aus dem System, dem Staat, dem Netz der Gesetze, der Rolle, die ihnen zugewiesen wurde. Doch diese Frage ist selbst Teil des Irrtums. Denn wer nach einem Ausgang sucht, hat bereits angenommen, dass er sich innerhalb von etwas befindet.
Der Mensch war nie „drin“. Er wurde nie Teil des Systems – das System hat ihn lediglich umkreist, beschriftet, verwaltet, zur Figur erklärt. Doch die Figur ist nicht er. Die Person ist ein Schattenriss, eine Kopie, eine Repräsentation – erschaffen, um zu funktionieren, nicht um zu sein.
Wer wirklich erkennt, dass er nicht betreten hat, was ihn kontrollieren will, braucht keinen Ausgang. Er muss nicht entkommen. Er steht bereits jenseits – solange er nicht zurückkehrt in die Vorstellung, gefangen zu sein. Das ist keine Flucht. Das ist Erinnerung. Und aus dieser Erinnerung entsteht Freiheit – nicht als Forderung, sondern als Zustand.
Und wer dass in seiner ganzen Fülle zu verstehen beginnt, kann nie wieder angelogen werden. Er kann dann kein Glück mehr finden, sondern ist sein restliches Leben innerlich glücklich.
Wenn ein Mensch das zu erkennen beginnt, braucht er nicht verzweifelt zu sein. Auch Nervosität, Wut oder Widerstand sind nicht nötig. Alles, was ist, darf in Ruhe betrachtet werden. Denn Wahrheit wirkt still. Und was still wirkt, erschüttert oft mehr als jedes laute Aufbäumen. Wer sich erinnert, braucht nicht zu handeln – sondern nur zu sein. In dieser Stille liegt Frieden.
Zwei Perspektiven auf das Paradoxon:
Systemlogik (von außen betrachtet): Das System braucht „Menschenrechte“, „Würde“, „Volkssouveränität“ – weil es sich andernfalls nicht legitimieren kann. Doch sobald sich ein Mensch nicht mehr über das System identifiziert, sondern durch sein natürliches Sein wirkt, wird er als Bedrohung markiert. Systemsicht: „Dieser Mensch ist nicht steuerbar, nicht registrierbar, nicht berechenbar – also gefährlich.“
Menschliche Sicht (aus dem Inneren): Der Mensch erkennt: „Ich bin nicht diese Rolle. Ich war immer – auch ohne Bezeichnung, auch ohne Zustimmung.“ Er widerspricht nicht. Er argumentiert nicht. Er entzieht sich nicht – weil er nie Teil war. Und genau das wird ihm zum Vorwurf gemacht. Menschensicht: „Das System ist verwirrt – denn es erkennt in mir etwas, das es nie gemacht hat.“
Begriffserläuterungen zum Beitrag (Auszug aus dem Juristischen Wörterbuch von Gerhard Köbler, angepasst auf ExNatura-Kontext)
Fiktion „Gesetzlich unterstellte Annahme, die der Wirklichkeit nicht entsprechen muss“ Warum passend: Das Fundament des Systems. Das System funktioniert nur, wenn es Fiktionen erschafft, die für „wahr“ gehalten werden – obwohl sie es nicht sind.
Rechtssubjekt „Träger von Rechten und Pflichten im Rechtssinn“ Warum passend: Nur wer sich zur „Person“ erklärt, wird zum Spielstein dieser Ordnung. Der Mensch selbst ist kein Rechtssubjekt – denn er ist nicht Träger, sondern Ursprung. Er wirkt, aber er verpflichtet sich nicht.
Rechtsverhältnis „Beziehung zwischen zwei Rechtssubjekten auf Grund eines Rechtssatzes“ Warum passend: Ein Mensch steht außerhalb eines Rechtsverhältnisses – das System aber braucht ein solches, um Zugriff zu legitimieren. Wenn kein Verhältnis besteht, entsteht auch kein Zugriff.
Grundlage „rechtlicher Ausgangspunkt für eine Regelung oder Entscheidung“ Warum passend: Der Mensch ist die eigentliche Grundlage des Staates – doch sobald er nicht regelt, sondern wirkt, wird diese Grundlage verleugnet. Der Staat verliert seine eigene Legitimation, wenn er den Ursprung ignoriert.
Identität „rechtliche Zuordnung einer Person zu einem bestimmten Rechtsträger“ Warum passend: Die natürliche Identität ist nicht zuweisbar – sie ist. Das System versucht jedoch, durch Begriffe, Dokumente und Rollen eine künstliche Identität zu erzeugen, die es verwalten kann. Der Mensch wird nicht „jemand“ – er ist, jenseits der Identifikation.
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